... das Museum ist ein Ort, in dem wir etwas über die Welt erfahren möchten – am liebsten schön systematisch, die Kulturgeschichte sortiert in historischer Reihenfolge, die Natur säuberlich zergliedert in Gattungen, Arten und Rassen. In dem Kreismuseum Syke kriegen wir all dies aufs anschaulichste geboten: Von Geweihäxte aus der Altsteinzeit über Geröllkeulen aus der Mittelsteinzeit und einem mittelalterlichen Baumsteinbrunnen bis hin zu einer Familie von Schneiderpuppen in der Tracht um 1900. Etwas weiter hinten finden wir sogar ein großes Diarama mit allem, was hierzulande wächst, kreucht und fleucht: Gräser, Kaninchen, Schleiereulen und so weiter. Doch dann durchschreiten wir ein Tor und es ist so, als ob wir wie Alice in das Loch eines Kaninchenbaus springen – und in einem Wunderland herauskommen:
Wir sind in der Welt der Drahtfiguren, Siebe und Knüpferlis von Mechtild Böger.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass wir auch hier einem Kaninchen begegnen, so wie Alice einem weißen Kaninchen ins Wunderland folgte. Alices hat eine Uhr in der Westentasche und kann sprechen, Mechtild Bögers Kaninchen lenkt zusammen mit einem Hund einen Traktor. Dieses Motiv ist die erste einer Serie Drahtfiguren mit Traktor. Es entstand, als Mechtild Böger einen Krimi im Fernsehen sah. Sie ist eine Frau, die ihre Finger nicht still halten kann. Da griff sie sich einen Draht und formte den Rad eines Traktors nach, den sie gerade in dem Krimi gesehen hatte, und das sie wegen der markanten Musterung des Reifenprofils sehr faszinierte. Als das Rad fertig gebogen war, blieb ein langes Stück Draht übrig – und so wuchs aus dem Reifen noch ein Führerhaus empor, in dem Hund und Kaninchen sitzen.
Es ist geradezu zu einem Dogma von Mechtild Bögers Drahtarbeiten geworden, dass sie den einmal abgeknipsten Draht in seiner Länge nicht mehr verändern darf. So entstehen immer wieder groteske Anhängsel: Ein Dackel zieht ein kleines Frauchen hinter sich her, eine Maus beißt einer kleinen Katze in den Hintern, und auf dem Hut des Jägers hat sich ein Rebhuhn niedergelassen. Doch nicht immer ist der Draht länger als die Bildidee von Mechtild Böger: Bei einer Promenadenmischung aus Dackel und Schnauzer reichte das Drahtstück von den Beinen über Schwanz, Rücken und Kopf bis zur Schnauze – die Brust des Hundes muss sich der Betrachter hinzudenken.
Und dies ist das besondere der Drahtfiguren: Mehr als ein Bleistiftstrich, der verwischt und wegradiert werden kann, widersetzt sich das Material dem Formwillen der Künstlerin. Der Draht tritt in Dialog mit der Künstlerin, er hat gleichsam seinen eigenen Willen, der sich ihr mal beugt, mal widersetzt. Manchmal ist er zu lang, manchmal ist er zu kurz. Und er ist sehr nachtragend: Ein Knick ist nicht mehr auszubügeln. Der Draht vergisst nie, was ihm einmal angetan wurde. So kann es passieren, dass Mechtild Böger ein Kamel machen möchte, doch am Ende ein Huhn daraus wird
Als ich sie für die Vorbereitung dieser Einführung fragte, wie sie zu den Motiven ihrer Drahtfiguren kommt, antwortete sie lapidar: „Was ich lange nicht gemacht habe“. Aber ganz so einfach ist es natürlich nicht, wie das Beispiel des Traktors zeigt. Mechtild schöpft aus dem Bildschatz unserer Kultur, z.B. aus Fernsehen, Zeitschriften aber auch die Kunstgeschichte liefert ihr Vorbilder: Erinnert der Reiter auf dem Hund nicht an Picassos Minotaurus-Darstellungen? Es sind Motivtypen mit einer langen kulturellen Tradition, Urbilder, Archetypen unserer Zivilisation, die sich über die Augen, das Gehirn und die Hände von Mechtild Böger ihren Weg in den Draht bahnen.
Ganz ähnlich, und doch völlig anders ist Mechtild bei den Sieben vorgegangen, von denen Sie hier 608 an der Wand und weitere in den Vitrinen sehen: Auch hier werden vorhandene Bilder neu formuliert, und auch hier bestimmt das verwendete Material die Gestalt des Kunstwerks.
Mechtild Böger hat die Rezeptur, nach der sie ihre Siebe fertigt, selbst erfunden. Ich möchte sie Ihnen verraten, zumindest soweit sie mir Mechtild Böger selber verraten hat – ein wenig muss natürlich ihr Geheimnis bleiben. Also: Man nehme normale Haushaltssiebe und schleife den Ring des Auffangkörbchens etwas an. Dann nehme man die Zeitschriften Spiegel, Focus oder Essen + Trinken. Es geht wirklich nur mit diesen, wegen der Papierqualität und des verwendeten Druckverfahrens. Dann drucke man mittels eines geheimnisvollen Leimverfahrens Illustrationen oder Schriftzüge auf Essoblaten, hebe die bildtragende, obere Schicht der Oblate ab und klebe sie auf ein Stück Transparentpapier. Dieses Transparentpapier wird dann auf den Ring des Auffangkörbchens geklebt.
Was auf den Oblaten zu sehen ist, ist – krass formuliert – ein unendlich schlechtes, verdünntes und zudem seitenverkehrtes Abbild der Wirklichkeit. Es ist geradezu so, als ob Mechtild Böger mit ihren Sieben in der grauen Suppe der Realität fischt, das meiste dabei durch die Löcher des Siebes rieselt, und sie lediglich blasse Abbilder zu fassen bekommt. Die Siebe werden so zu sinnfälligen Symbolen für das kollektive Gedächtnis unserer Kultur: Die Geschehnisse werden durch Regierungen, Reporter, Redaktionen oder puren Zufall gefiltert, bevor sie in die Medien kommen, und sich unserem Gedächtnis anvertrauen – oder unserer Vergesslichkeit. Wie bei einem Film von Hamilton legt sich ein Schleier des schönen Scheins über die Bilder.
So auch bei Mechtild Bögers verwaschen wirkenden Oblatenbildern – und darin liegt ihre besondere Pikanterie. Das Schöne ist auch das Gute, wissen wir von Philosophen wie Platon, und Mechtild Bögers Oblatenbilder sind schön: Ihr Motive wirken elegant dahingehaucht und erfahren durch den sakralen Bildträger der Oblate – oder Hostie – eine Auratisierung, wie sie sonst nur Ikonen zukommt.
Doch was wir darauf erkennen ist häufig alles andere als gut: Neben einem harmlosen Wasserball können wir durchaus eine Wasserleiche finden. Es ist weniger das grausame Motiv, als diese merkwürdige Anordnung der Siebe, die uns schockiert. Wir sind ordentliche Systeme mit einer stringenten Kategorisierung gewohnt, so wie sie uns in Lehrbüchern oder eben in Museen dargeboten werden. Auch unser moralisches System unterscheidet streng zwischen der Kategorie des Guten und des Bösen.
Mechtild Böger lässt in ihrem Tableau der auratisierten Haushaltssiebe jedoch sich widersprechende, völlig unterschiedliche Ordnungsmuster gelten: Mal ist es die Farbe, mal die Form, mal der Inhalt, der entscheidet, was nebeneinander hängt. Lassen Sie mich dies an einer besonders eindrücklichen Sequenz von Sieben erläutern, die Sie hier auf der Wand finden werden:
Neben einem Sieb mit einem erotisch roten Lippenstift hängt eines mit einer Schwarz-Weiß-Darstellung eines Gehängten – weil er die selbe hübsche Vertikalbewegung aufweist, die von Griff und Auflage-Öse des Siebes fortgesetzt wird. Ein Sieb darunter wird die Farbe des Lippenstiftes durch zwei Tomaten aufgegriffen, die wiederum in den kugelförmigen Köpfen von Helmut Schmidt und Erich Honnecker auf dem Nachbarsieb eine formale Analogie finden.
Bei einem anderen Siebpaar lässt sich wiederum nur über den Inhalt eine Brücke herstellen: Neben einem Sieb mit den ausgebrannten Trümmern des New Yorker World Trade Centers hängt ein Sieb mit einem leckeren Stück Steak. Was, fragen Sie sich, hat das denkbar Grausamste neben dem denkbar Leckersten gemein? Denken Sie gar nicht lange nach, schauen Sie einfach hin: Spüren Sie nicht auch den Geruch von verbranntem Fleisch in der Nase?
Manchmal sind es auch über das Tableau verstreute Siebe, die eine motivische Struktur bilden: Das Brandenburger Tor taucht immer wieder auf, jedoch stets in neuem Kontext: Mal als Durchfahrt für Hitlers Führermercedes, mal als Kulisse für russische Soldaten, die im Stechschritt marschieren, mal als Siegestrophäe für einen Gerhard Schröder, der gerade Kohl als Kanzler abgelöst hat.
Lassen Sie mich nach diesem Tablaeu, das vor allem unsere moralischen Kategorien von Gut und Böse erschüttert und verunsichert, zu etwas einfacherem und heitererem kommen: Zu Mechtild Bögers Knüpferlis. Für die, die diese rechteckigen, zusammensteckbaren Plastikgitterchen nicht aus ihrer Kindergartenzeit kennen, möchte vorlesen, was Knüpferlis sind. Ich zitiere aus einem Werbetext der Firma Dusyma, die Knüpferlis schon seit ca. 50 Jahren herstellt:
„Knüpferli sind einzigartige Knüpf-, Steck-, Flecht- und Bauelemente
Knüpferli sind erfunden zum Spiel für kleine und große Leute
Knüpferli bieten Millionen Möglichkeiten […] Mit
Knüpferli kannst Du nicht nur technische Formen nachbilden, mit
Knüpferli wirst Du Schöpfer von Kunst- und Naturformen“
Und das Fazit lautet: „Langeweile hast Du nie Mit Dusyma-Knüpferli“
Jetzt wissen wir also, wie sich Mechtild Böger ihre Langeweile vertreibt: Sie betätigt sich als Schöpferin von Kunst- und Naturformen mit Knüpferlis. Unter ihren Fingern entstehen Badeanzüge und Badekappen, Gottesanbeterinnen, Seeigelskelette, Jagdtrophäen oder ein Rüsselkäfer, von dem sie freimütig bekennt: „So was hab ich mal aufgespießt, als ich dreizehn war“. Und sie liefert uns mit den Knüpferlis endlich die Systematik, nach denen sich unser Gehirn bei dem Sieb-Tableau immer gesehnt hat. In mit römischen Ziffern von I bis IV durchnummerierten Kästen finden wir ein differnziertes Ordnungsschema von möglichen Knüpferli-Verbindungen.
Wir finden hier, sorgfältig mit Ziffern und Buchstaben gegliedert,
einfache Knüpferli-Verbindungen,
kombinierte einfache Knüpferli-Verbindungen,
kombinierte einfache Knüpferli-Verbindungen mit gedrehter Ecke,
einfach durchschlungene Knüpferli-Verbindungen,
zweifach durchschlungenen Knüpferli-Verbindungen,
und so weiter und so fort.
Diese Schaukästen mit möglichen Knüpferli-Bildern lassen jede hochwissenschaftliche, nautische Knotentafel wie ein Kinderspiel erscheinen. So geordnet dieses Knüpferli-System auch immer sein mag – die Zusammenschau mit dem Sieb-Tableau lässt erkennen, dass Mechtild Böger uns mit einer beunruhigenden Entdeckung konfrontiert: Ein Kindergartenspiel aus Plastik lässt sich leichterdings in einem System darstellen. Unsere komplexe kulturelle Welt mit ihren schwierigen moralischen Fragestellungen jedoch nicht. Probieren sie es gerne einmal an den Sieben aus!
[Eröffnungsrede, Kreismuseum Syke, 2004
© Daniel Schreiber, geschäftsführender Kurator der Kunsthalle Tübingen.]